Krimiwerkstatt-Braunschweig

Elf auf einen Streich
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 Maike van Ophemert
Elf auf einen Streich
Es war ein Datum, aus der neueren Geschichte, welches aktuell und weltweit bekannt war: nine eleven.
Auch in Braunschweig würde man dieses Datum, den 11.9.23 nicht so leicht vergessen.
Laut den Ermittlungen der Polizei fand das Ereignis zwischen 20.30 Uhr und 21 Uhr statt.
Gegen 19 Uhr trafen sich die Kreativen der KrimiWerkstatt mit Hardy Crueger im Kontorhaus am Jödebrunnen. Es war das erste Treffen nach langer Zeit. Weitere sollten folgen.
Gegen 23 Uhr machte sich ein besorgter Partner einer Krimiautorin auf die Suche nach dem Kontorhaus. Sie war gemeinsam mit Freunden gegen 18.30 Uhr dorthin aufgebrochen.
So schnell machte er sich keine Sorgen, doch es war Anfang der Woche, und morgen würde ein voller Arbeitstag anstehen. Es war absolut untypisch für seine Freundin, an einem Montag so spät nach Hause zu kommen. Auch auf seine Anrufe und Nachrichten reagierte sie nicht. Die Nachrichten wurden auch nicht als gelesen angezeigt. Das beunruhigte ihn am meisten.
Er parkte am Anfang des Kontorhauswegs. Es war ein nicht gepflasterter Weg ohne weitere Häuser, zugewachsen und mit hohen Büschen auf der rechten Seite. Die ein oder andere etwas weiter voneinander entfernte Straßenlaterne gab ein schummriges Licht ab. Die Schatten der Bäume und Sträucher wirkten diffus. Im Gebüsch oder vielleicht eher im Laub raschelte es leise. So genau konnte er es nicht orten. Vielleicht Mäuse? Er ging den Weg weiter, etwas unheimlich war ihm zu Mute. Er beschleunigte seine Schritte. Bis auf das Rascheln im Gebüsch und die weit entfernten Geräusche der Autobahn war kein Mucks zu hören. Er schritt auf das Kontorhaus zu. Er kannte es von den Bildern aus dem Internet, die ihm seine Freundin gezeigt hatte. Es lag im Dunkeln. Die Laterne davor erleuchtete die Veranda mit den drei Stufen nur ein wenig.
Der Lichtkegel der Laterne war nicht sehr hell. Er hatte ein ungutes Gefühl. Als er näherkam, erkannte er, dass die Tür zum Kontorhaus nur angelehnt war. Sein Gefühl wurde noch mulmiger und angespannter.
Er stieg die Treppen der Veranda bis zur Tür hoch und merkte, wie ihm sein rasender Puls mehr und mehr ein Schwindelgefühl verursachte. Mit nicht mehr ganz so fester Stimme rief er: „Hallo, ist hier jemand?“ Vorsichtig versuchte er die Tür aufzudrücken. Es roch nach Eisen. Die Tür quietschte leicht und ließ sich zunächst nur 10 bis 15 cm aufschieben. Dann spürte er einen weichen Widerstand. Er schaltete die Taschenlampe seines Handys an und leuchtete in den Raum. Das Licht wirkte gespenstisch.
Die Tür war nun ein Drittel geöffnet, leichte Panik stieg ich ihm hoch. Jetzt konnte er einen Teil eines überwiegend hellen Tisches erkennen, an dem eine Person leicht verdreht saß, während zwei andere mit dem Kopf auf der Tischplatte lagen. Er versuchte einen Schritt in den Raum zu machen und hörte ein schmatzendes Geräusch, als er in etwas Nasses trat. Ein stechender Schmerz fuhr ihm in den Kopf. Er tastete nach einem Lichtschalter und drückte darauf.
Was für ein Schock! Das grelle Licht offenbarte ein unvorstellbares Grauen. Er sah Körper, die seitlich auf dem Stuhl hingen oder mit dem Kopf auf dem Tisch lagen bzw. das, was vom Kopf noch übrig war. Gehirnmasse quoll heraus. Er erkannte seine Freunde, die mit ineinander verschränkten Händen über Eck am Tisch saßen: Kopf- und Brustschuss von vorne. Die Brillen saßen nicht mehr richtig auf der Nase, registrierte er beiläufig.
Und nun sah er auch, warum die Tür nicht weiter aufging. Ein Mann im braunen Trainingsanzug, so wie man sie damals in der DDR trug, blockierte mit seinem Körper den Eingang. Kopfschuss von hinten. Er verschaffte sich mit einem Ruck Zutritt in den Raum, zerdrückte aber gleichzeitig fast sein Handy vor lauter Anspannung.
Er war jetzt nah an einem Herzinfarkt. Das war alles gar nicht gut für seinen hohen Blutdruck.
Niemand bewegte sich mehr. Auch sein Schatz lag halb unter dem Tisch, die blonden Haare waren blutverschmiert.
Als ehemaliger Bundeswehrsoldat behielt er zunächst die Ruhe, setzte jedoch schon leicht zitternd einen Notruf ab. Danach schaute er, ob noch irgendwer der elf (wieder diese verdammt Zahl elf) überlebt hatte. Die Notrufzentrale hielt ihn in der Leitung, und auch derjenige auf der anderen Seite schien geschockt zu sein, was sich durch leichtes Stottern bemerkbar machte.
Er setzte sich zitternd auf die Stufen der Veranda. Die Polizei rückte von der rechten Seite des Kontorhauswegs an. Sie waren sehr schnell da, was ihn ein wenig verwunderte. Vielleicht lag es aber auch an der Gegend, in der immer eine gewisse Polizeipräsenz wichtig war.
Als der erste Polizist da war, schaffte er es noch, sich als der Anrufer zu erkennen zu geben. Danach brach er zusammen.
Die Liebe seines Lebens, sie wollte er doch im April heiraten, und auch die Trauzeugen, die besten Freunde – alle waren tot.
Er verbrachte mehrere Tage in einem Krankenhaus, wo er mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt wurde.
Die Presse stürzte sich auf den Fall. Und das Kontorhaus, das in Braunschweig bisher nur wenige kannten, war jetzt in aller Munde, und es herrschte ein wahrer Schaulustigen-Tourismus in dem sonst so ruhig gelegenen Kontorhausweg. Beim Bäcker, der hier seinen Backbetrieb direkt am Jödebrunnen hatte, klingelte in dem dazugehörigen Café laufend die Kasse.
Man erfuhr später aus der Zeitung, dass die Polizei einen Hinweis auf rivalisierende Banden bekommen hatte, die sich am Montagabend in der Weststadt treffen wollten.
Es erfolgte eine außergewöhnliche Festnahme. Der Verdächtige, bekannt als „der Pate“, war Spross einer arabischen Großfamilie. Er wollte sein Revier ein für alle Mal klarmachen und hatte durch einen Trick die Drogendealer, die für Braunschweig und die Region zuständig waren, in die Nähe des Kontorhauswegs gelockt. Dort sollten sie von einem deutschsprechenden Söldner aus der Wagnertruppe getötet werden. Nur leider hatte dieser den schriftlichen Auftrag falsch verstanden – man hörte es ja immer wieder in der Presse, dass die Lesekompetenz immer mehr abnähme. So hatte der Söldner das geschriebene Wort Kontorhausweg als Kontorhaus gelesen und alle Leben, die sich am Abend des 9.11. dort befanden, ausgelöscht. Es muss sehr schnell gegangen sein, teilweise enthielten die Körper bis zu drei Projektile einer MP 7.
Die KrimiWerkstättler waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort …
Eine Tradition rund um Hardy Crueger und die KrimiWerkstatt scheint damit gestorben zu sein …. Nach dieser Bluttat dürfte es schwer sein, dieses Projekt wiederzubeleben …
Ist das also das Ende einer über 10 Jahre lang veranstalteten KrimiWerkstatt mit tollen Lesungen? … Wer würde diese nach einer Massenermordung von elf talentierten Krimiautoren am 11.9. je wieder fortführen wollen? … Niemand!?